
Blindenstöcke sind unverzichtbare Hilfsmittel für Menschen mit Sehbehinderungen oder Blindheit. Sie dienen nicht nur der Orientierung, sondern auch der Sicherheit im Alltag. Seit ihrer Einführung im frühen 20. Jahrhundert haben sie sich stark weiterentwickelt und sind heute in verschiedenen Ausführungen erhältlich, die auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten sind. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die wichtigsten Arten von Blindenstöcken, ihre Eigenschaften und Anwendungsbereiche.
1. Der Langstock (Orientierungsstock)
Der Langstock, international als „weißer Stock“ bekannt, ist das am weitesten verbreitete Hilfsmittel für vollblinde oder stark sehbehinderte Menschen. Mit einer Länge von 120 bis 150 cm reicht er bis zur Brusthöhe der/des Nutzenden und ermöglicht das frühzeitige Erkennen von Hindernissen durch rhythmisches Pendeln vor dem Körper – in der Regel im Radius der erweiterten Schulterbreite. Die weiße Farbe ist gesetzlich vorgeschrieben und dient der Sichtbarkeit im öffentlichen Raum (WHO, 2021).
Funktion und Technik
Moderne Langstöcke bestehen aus leichten Materialien wie Aluminium oder Carbon und verfügen oft über eine Rollspitze aus Nylon, die ein gleitendes Abtasten des Bodens ermöglicht. Durch die Pendeltechnik können Nutzer*innen Unebenheiten, Treppen oder Hindernisse in bis zu einem Meter Entfernung identifizieren. Laut einer Studie des Journal of Visual Impairment & Blindness (2019) reduziert der Langstock das Sturzrisiko in unbekannten Umgebungen um bis zu 60 %. Entscheidend ist dabei ein begleitendes Orientierungs- und Mobilitätstraining (O&M), in dem Techniken wie die korrekte Stockhaltung oder die Interpretation taktiler Signale vermittelt werden.
Einsatzgebiete
Der Langstock eignet sich besonders für komplexe Situationen wie den Straßenverkehr, öffentliche Verkehrsmittel oder Reisen. Seine Reichweite bietet Schutz vor überraschenden Hindernissen wie offenen Kellerklappen. Allerdings kann er in engen Räumen unhandlich sein und bei intensiver Nutzung zu Ermüdung führen.
2. Der Taststock (Kurzstock)
Der Taststock, oft Symbolstock genannt, ist mit 70 bis 100 Zentimetern deutlich kürzer und leichter als der Langstock. Er dient weniger der aktiven Hinderniserkennung, sondern signalisiert anderen Menschen die Sehbehinderung. Viele Modelle sind ebenfalls weiß, um die Sichtbarkeit zu erhöhen, werden aber auch in unterschiedlichen Varianten angeboten.
Zweck und Techniken
Der Kurzstock wird vor allem von Menschen mit Restsehvermögen (verbliebene Sehleistung) genutzt, die in vertrauten Umgebungen unterwegs sind. Er fungiert als Stütze und hilft bei der kurzfristigen Prüfung von Hindernissen im Nahbereich (z. B. Bordsteinkanten oder Türschwellen). Anders als beim Langstock fehlt jedoch die systematische Pendelbewegung. Stattdessen bleibt der Stock oft in lockerem Kontakt mit dem Boden.
Laut der American Foundation for the Blind (AFB, 2020) nutzen etwa 40 % der Teilsehbehinderten (Diagnose einer partiellen Sehstörung) den Kurzstock als Kompromiss zwischen Mobilität und Diskretion. Er ist weniger auffällig als der Langstock und eignet sich für kurze Wege in bekannten Räumen, wie dem Weg zur nahegelegenen Bushaltestelle oder im Supermarkt.
Einsatzgebiete
Der Taststock ist ideal für Menschen, die:
- Über ein eingeschränktes Sehvermögen verfügen, aber noch Kontraste oder grobe Umrisse erkennen.
- In vertrauten Umgebungen (z. B. zu Hause oder am Arbeitsplatz) unterwegs sind.
- Eine schnelle, unkomplizierte Mobilitätshilfe suchen, die leicht zu transportieren ist.
3. Vergleich der Vor- und Nachteile von Langstock und Kurzstock
Langstock: Maximale Sicherheit, aber höherer Aufwand
Der Langstock bietet eine überlegene Reichweite und Schutzfunktion, was ihn zur ersten Wahl für vollblinde Menschen macht. Studien der WHO (2021) belegen, dass er in Kombination mit O&M-Training die selbstständige Mobilität signifikant verbessert. Allerdings erfordert er Übung und ist in engen Räumen wie vollen U-Bahnen oder kleinen Geschäften unhandlich. Zudem kann die intensive Nutzung zu Ermüdung in Armen und Schultern führen.
Kurzstock: Praktisch, aber begrenzt
Der Kurzstock punktet mit Leichtigkeit und Flexibilität. Er lässt sich problemlos in einer Tasche verstauen und ist für Teilsehbehinderte eine diskrete Lösung, um auf ihre Einschränkung hinzuweisen. Allerdings bietet er keinen ausreichenden Schutz vor überraschenden Hindernissen wie offenen Kellerklappen. Die AFB warnt daher davor, ihn als alleinige Mobilitätshilfe in unübersichtlichen Umgebungen einzusetzen.
4. Der elektronische Blindenstock
Technologische Innovationen haben zu Stöcken mit integrierten Sensoren geführt. Diese Modelle verfügen über Ultraschall-, Vibrations- oder GPS-Systeme, die Hindernisse in Kopfhöhe (wie herabhängende Äste) melden oder die Navigation unterstützen. Einige elektronische Stöcke senden akustische Signale aus oder vibrieren, um auf Hindernisse hinzuweisen. Zwar bieten sie zusätzliche Sicherheit, ersetzen aber nicht die klassische Stocktechnik, sondern ergänzen sie. Ihr Nachteil liegt im höheren Gewicht und Energiebedarf (Batterien/Akkus). Modelle wie der WeWalk Smart Cane nutzen Ultraschall zur Erkennung von Hindernissen in Kopfhöhe und integrierte GPS-Navigation via Sprachansagen (European Blind Union, 2022). Laut einer Umfrage des Royal National Institute of Blind People (2023) nutzen jedoch 70 % der Befragten primär physische Stöcke, da Technik allein keine taktilen Rückmeldungen bietet.
5. Varianten als Falt- oder Teleskopstock
Faltstöcke bestehen aus mehreren Segmenten, die sich zusammenschieben lassen, und sind bei mobilen Nutzern sehr beliebt. Sie kombinieren die Vorteile des Langstocks mit praktischer Transportfähigkeit. Teleskopstöcke lassen sich stufenlos verlängern und sind oft mit Griffen aus Gummi oder Schaumstoff ausgestattet, um Komfort zu gewährleisten. Allerdings können sie bei häufiger Nutzung an Stabilität verlieren, weshalb hochwertige Materialien entscheidend sind.
6. Spezialstöcke für Sport und Freizeit
Für aktive Nutzer gibt es angepasste Modelle, etwa wasserfeste Stöcke für Schwimmbäder oder robuste Varianten für Wanderungen. Diese sind besonders stabil und witterungsbeständig. Im Sportbereich kommen auch Stöcke mit Rollspitzen zum Einsatz, die eine flüssigere Bewegung ermöglichen, beispielsweise beim Joggen.
7. Materialien und Sicherheitsmerkmale
Blindenstöcke werden aus Materialien wie Aluminium (leicht und langlebig), Carbon (extrem leicht und flexibel) oder Kunststoff (kostengünstig) gefertigt. Die Spitze besteht meist aus Nylon oder Gummi, um Bodenkontakt und Gleitfähigkeit zu optimieren. Manche Modelle verfügen über austauschbare Spitzen, um sich unterschiedlichen Bodenbelägen anzupassen. Zudem können sie bei Verschleiß leicht getauscht werden. Kurzstöcke sind hauptsächlich aus robustem Kunststoff für häufigen Bodenkontakt gefertigt. Reflexstreifen oder LED-Lichter erhöhen die Sichtbarkeit, insbesondere in der EU und den USA, wo rote Streifen gesetzlich vorgeschrieben sind. Zur Sichtbarkeit im Dunkeln werden retroreflektierende Materialien in Form von speziellen Folien oder Bändern (z. B. aus Glasperlen oder Mikroprismen), die Licht direkt zur Lichtquelle zurückwerfen (z. B. Scheinwerfer von Autos) genutzt. Diese werden oft entlang des Stockschafts oder als Ringe an der Spitze platziert.
Kulturelle Perspektiven
Während in Europa der Langstock dominiert, nutzen in einigen afrikanischen Ländern sehbehinderte Menschen traditionell kürzere Stöcke aus Holz oder Bambus – oft aufgrund mangelnden Zugangs zu modernen Hilfsmitteln (IAPB, 2021). In Japan sind faltbare Modelle besonders beliebt.
8. Auswahlkriterien und Schulung
Die Wahl des richtigen Stocks hängt von Faktoren wie Mobilitätsbedarf, Körpergröße und Lebensstil ab. Eine fachgerechte Anpassung und Schulung durch Reha-Trainer (oder O&M-Trainer) ist essenziell, um Techniken wie das „Pendeln“ oder „Abtasten“ zu erlernen. Auch psychologische Aspekte spielen eine Rolle: Der Stock ist ein Symbol für Selbstständigkeit, dessen Nutzung oft Überwindung kostet. Viele Nutzer*innen kombinieren beide Stöcke – den Langstock für Reisen, den Kurzstock im vertrauten Umfeld. Zusätzlich zum Langstock nutzen einige blinde Menschen gerne einen Blindenführhund, der je nach individuellen Bedürfnissen eine wertvolle Ergänzung bietet. Einen praktischen Einblick in die Nutzung des Stocks bieten unsere Sensibilisierungsschulungen.
9. Fazit
Blindenstöcke sind viel mehr als einfache Gehhilfen – sie sind Werkzeuge für Sicherheit, Orientierung und Unabhängigkeit. Von klassischen Langstöcken bis zu Hightech-Modellen bietet die Vielfalt der Designs Lösungen für nahezu jede Lebenssituation. Dennoch bleibt der weiße Stock ein internationales Symbol, das gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Rücksicht einfordert. Während der Langstock vollblinden Menschen weltweit als Standardhilfsmittel dient, bietet der Kurzstock Teilsehbehinderten diskrete Unterstützung. Durch Weiterentwicklungen in Technik und Design wird er auch zukünftig eine zentrale Rolle im Leben blinder Menschen spielen. Durch gezielte Schulungen und individuelle Beratung kann er seine volle Wirkung entfalten – als Hilfsmittel zur Selbstständigkeit und der Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe.
Quellen
- World Health Organization (WHO). (2021). Assistive Technology for Blindness and Low Vision.
- American Foundation for the Blind (AFB). (2020). Survey on Mobility Tools for Visually Impaired Adults.
- Journal of Visual Impairment & Blindness. (2019). Impact of Long Canes on Fall Prevention.
- European Blind Union. (2022). Smart Canes and GPS Technology: A User Report.
- International Agency for the Prevention of Blindness (IAPB). (2021). Cultural Perspectives on Mobility Aids.
- Royal National Institute of Blind People (RNIB). (2023). User Preferences in Mobility Aids.
Stand: 04/2025
Vielfalt Sehen IV: Kann ein Blindenführhund den weißen Langstock ersetzen?
Ihr Kontakt zum KSL-MSi-NRW
Julian Rohlfing
E-Mail: julian.rohlfing@ksl-msi-nrw.de