Direkt zum Inhalt
17.02.2025
Wahlschablone

Blinde und sehbehinderte Menschen in Deutschland haben heute die Möglichkeit, ihr Wahlrecht selbstständig und diskretionsvoll wahrzunehmen – ein Recht, das historisch erkämpft wurde und durch moderne Hilfsmittel gestützt wird. Dieser Artikel erklärt aus aktuellem Anlass zur kommenden Bundestagswahl, wie die Teilhabe am demokratischen Prozess funktioniert, welche Werkzeuge zur Verfügung stehen und wie sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen im Laufe der Zeit entwickelt haben.


Historischer Hintergrund: Seit wann dürfen blinde Menschen wählen?

Blinde Menschen in Deutschland konnten erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts ihr Wahlrecht ohne größere Einschränkungen ausüben. In der Weimarer Republik (1919–1933) gab es zwar kein explizites Wahlverbot für Blinde, doch praktische Hürden waren enorm. Viele blinde Menschen standen unter Vormundschaft, was ihr Wahlrecht automatisch entzog. Erst mit dem Grundgesetz von 1949 wurde die Gleichberechtigung aller Bürger*innen verankert, unabhängig von Behinderungen. Dennoch blieben praktische Barrieren bestehen: Lange waren blinde Wähler*innen darauf angewiesen, sich beim Ausfüllen des Stimmzettels helfen zu lassen – ein Verstoß gegen das Wahlgeheimnis.

Ein Meilenstein war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2013, das die bisherige Praxis kritisierte: Die Richter*innen stellten klar, dass blinde Menschen ihr Wahlrecht nur dann gleichberechtigt ausüben können, wenn sie ihre Stimme geheim und ohne fremde Hilfe abgeben können. Dies führte zur Entwicklung neuer Hilfsmittel, die erstmals bei der Bundestagswahl 2017 flächendeckend eingesetzt wurden.


Der Wahlprozess heute: So funktioniert‘s

Blinde Menschen haben in Deutschland zwei Möglichkeiten zu wählen: Vor Ort im Wahllokal oder per Briefwahl. In beiden Fällen stehen spezielle Hilfsmittel zur Verfügung, um die Stimmabgabe unabhängig zu gestalten.

1. Vor-Ort-Wahl: Schablonen und Assistenz

In Wahllokalen können sehbehinderte Menschen eine taktile Wahlschablone anfordern. Diese Kunststoffvorlage wird über den Stimmzettel gelegt und enthält:

  • Erhabene Markierungen, die die Felder für die Erst- und Zweitstimme ertasten lassen.

  • Braille-Beschriftung (Punktschrift), die Parteien und Kandidat*innen benennt.

  • Eine Aussparung, die das korrekte Ankreuzen ermöglicht.

Die Schablone wird vor der Wahl vom Bundeswahlleiter bereitgestellt und ist bundesweit einheitlich gestaltet. Zusätzlich dürfen sich Wähler*innen von einer Vertrauensperson begleiten lassen, die beim Einlegen der Schablone oder beim Gang zur Wahlurne hilft – jedoch nicht beim Ankreuzen selbst.

2. Briefwahl: Barrierefreie Unterlagen

Bei der Briefwahl können blinde Menschen barrierefreie Wahlinformationen anfordern, darunter:

  • Wahlbenachrichtigungen und Stimmzettel in Braille.

  • Audiobeschreibungen der Wahlunterlagen per CD oder Online-Stream.

  • Anleitungen zur Nutzung der taktilen Schablone, die auch per Post versendet wird.

Seit 2021 testen einige Bundesländer zudem digitale Assistenzsysteme, etwa Screenreader-kompatible PDFs oder Apps, die den Stimmzettel vorlesen.


Weitere Hilfsmittel und Unterstützung

Neben den Wahlschablonen gibt es weitere Angebote, um sehbehinderten Menschen die politische Teilhabe zu erleichtern:

  • Informationsmaterial in Braille: Parteiprogramme und Wahl-O-Mat-Ergebnisse werden von Blindenverbänden wie dem DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband) aufbereitet.

  • Barrierefreie Wahlkampfauftritte: Immer mehr Politiker*innen nutzen Audiodeskriptionen oder Untertitel in Videos.

  • Schulungen für Wahlhelfer*innen: Diese lernen, taktile Schablonen korrekt auszugeben und auf Bedürfnisse einzugehen.


Herausforderungen und Zukunft

Trotz der Fortschritte gibt es noch Verbesserungsbedarf:

  • Uneinheitliche Standards: In manchen Kommunen sind Schablonen nicht ausreichend vorhanden.

  • Technologische Lücken: Digitale Lösungen wie Online-Wahlen sind in Deutschland noch nicht zugelassen, obwohl sie mehr Autonomie ermöglichen könnten.

  • Bewusstseinsbildung: Viele Wahlhelfer*innen und Politiker*innen sind nicht ausreichend über Hilfsmittel informiert.

Blindenverbände fordern daher den flächendeckenden Einsatz elektronischer Stimmzettel, die über Sprachausgabe und Tastatur bedienbar sind. Ein Pilotprojekt dazu läuft aktuell in Bremen.


Fazit: Wahlrecht als Menschenrecht

Die heutigen Hilfsmittel sind ein wichtiger Schritt zur Inklusion, doch der Weg war lang: Erst seit 2017 können blinde Menschen in Deutschland ihr Wahlrecht wirklich geheim und selbstbestimmt ausüben. Diese Entwicklung zeigt, wie Demokratie durch technische Innovation und gesetzliche Anpassungen lebendig bleibt. Für die Zukunft gilt es, die Vielfalt der Bedürfnisse noch stärker zu berücksichtigen – damit wirklich alle Bürger:innen ihre Stimme erheben können.


Quellen: Bundeswahlleiter, DBSV, Urteil des BVerfG vom 14. Februar 2013 (2 BvC 1/11).

Weitere informative Artikel finden Sie in unserer Artikelreihe Vielfalt Sehen.