Psychische Gesundheit bei Blindheit und Sehbehinderung: Evidenzbasierte Analyse und Handlungsempfehlungen
1. Einleitung: Sehverlust als umfassende Lebensherausforderung
Blindheit und Sehbehinderung betreffen weit mehr als nur das Sehen. Sie verändern nahezu alle Lebensbereiche – von der Mobilität über die berufliche Tätigkeit bis hin zu sozialen Kontakten. Ein oft übersehener Aspekt ist die psychische Gesundheit. Studien zeigen eindeutig: Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Depressionen, Angststörungen und soziale Isolation (Quelle 1).
In Deutschland leben etwa 1,2 Millionen Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung, mehr als die Hälfte ist über 75 Jahre alt (Quelle 2). Die Weltgesundheitsorganisation definiert Blindheit als Visus unter 0,05 auf dem besseren Auge, Sehbehinderung liegt bei einem Visus zwischen 0,05 und 0,3. Die Universität Regensburg erforscht seit 2013 die psychische Gesundheit von Menschen mit Sehbehinderungen. Etwa 30 Prozent der Betroffenen leiden unter Depressionen oder Angststörungen (Quelle 4).
2. Wie häufig sind psychische Erkrankungen?
Bei Kindern mit Sehbehinderung liegt die Prävalenz von Depressionen bei 14 Prozent, bei Erwachsenen bei 25 bis 30 Prozent (Quelle 5). Bei altersbedingten Sehbehinderungen steigt das Risiko auf 25 bis 45 Prozent (Quelle 6). Eine RKI-Studie aus 2024 zeigt: 35 Prozent der Menschen mit Behinderungen berichten von depressiven Symptomen, in der Gesamtbevölkerung sind es nur 10 Prozent (Quelle 7).
Die COVID-19-Pandemie verschärfte die Situation massiv. Menschen mit Sehbehinderung hatten ein 1,6-fach höheres Risiko für Angststörungen und Depressionen. Über 50 Prozent litten während der Pandemie unter psychischen Problemen (Quelle 8). Das Suizidrisiko ist zwei- bis dreifach erhöht, insbesondere bei jüngeren Erwachsenen und älteren Menschen (Quelle 9).
Wichtig: Psychische Belastungen beeinflussen auch die Wahrnehmung der Sehfähigkeit. Stress kann Symptome verstärken oder psychogene Sehstörungen auslösen. Deshalb braucht es eine integrierte Behandlung von Augenerkrankungen und psychischen Problemen (Quelle 11).
3. Warum sind Betroffene besonders belastet?
3.1 Soziale Isolation und strukturelle Barrieren
Fehlende Barrierefreiheit – in Bussen, auf Websites, in Behörden – erschwert soziale Kontakte erheblich. Besonders in ländlichen Gebieten ist der Zugang zu Selbsthilfegruppen oder Beratungsangeboten begrenzt. Dies erhöht das Risiko für Einsamkeit und psychische Erkrankungen (Quelle 12). Menschen mit Migrationshintergrund sind besonders betroffen, da sie zusätzlich Sprach- und Kulturbarrieren überwinden müssen (Quelle 13).
3.2 Stigmatisierung und geringes Selbstwertgefühl
Aussagen wie "Du siehst doch noch etwas" oder "Können blinde Menschen überhaupt ein Smartphone nutzen?" relativieren die Realität Betroffener und erzeugen Rechtfertigungsdruck (Quelle 14). Viele internalisieren diese negativen Zuschreibungen, was zu Trauer und Selbstzweifeln führt. Die Stigmatisierung betrifft auch Angehörige (Quelle 15).
3.3 Trauma und Verlustverarbeitung
Plötzlicher Sehverlust durch Unfälle kann posttraumatische Belastungsstörungen auslösen. Auch schleichender Sehverlust bei Erkrankungen wie Retinitis Pigmentosa wird als Trauerprozess erlebt. Das Spiralphasenmodell nach Erika Schuchardt beschreibt Phasen wie Ungewissheit, Aggression, Depression und Annahme. Diese verlaufen jedoch nicht linear und sind individuell sehr unterschiedlich (Quelle 16).
4. Probleme im Gesundheitssystem
Augenärztliche und psychologische Betreuung sind in Deutschland weitgehend getrennt. Dabei ist bekannt, dass Stress die Sehkraft verschlechtern kann und Sehverlust erhebliche psychische Folgen hat. In der augenärztlichen Praxis wird die psychische Verfassung jedoch selten ausreichend berücksichtigt.
Psychogene Sehstörungen – bei denen psychische Ursachen zu funktionalem Sehverlust führen – werden oft erst spät erkannt. Kognitive Verhaltenstherapie zeigt hier gute Erfolge, wird aber selten eingesetzt (Quelle 17). Menschen mit Mehrfachbehinderungen haben ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen, werden aber oft nicht ausreichend berücksichtigt (Quelle 18).
Weitere Barrieren: lange Wartezeiten auf Therapieplätze, nicht barrierefreie Praxen, Mangel an erfahrenen Therapeutinnen und Therapeuten sowie fehlende barrierefreie Informationsmaterialien.
5. Was können Betroffene selbst tun?
Soziale Unterstützung: Selbsthilfegruppen bieten geschützten Raum für Austausch. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband vermittelt bundesweit Kontakte (Quelle 19). Die App "Be My Eyes" verbindet blinde Menschen mit sehenden Freiwilligen (Quelle 12).
Psychotherapie: Der DBSV entwickelt den "Mental Health Digital Hub" zur Vermittlung erfahrener Therapeutinnen und Therapeuten (Quelle 19).
Körperliche Aktivität: Adaptive Sportarten wie Goalball oder Blindenfußball wirken antidepressiv und fördern soziale Kontakte (Quelle 20).
Entspannungstechniken: Meditation oder Yoga helfen, Stress abzubauen. Apps wie "Calm" bieten barrierefreie Anleitungen (Quelle 20).
Technologische Hilfsmittel: Screenreader wie VoiceOver, Navigations-Apps wie "Lazarillo" und die App "Seeing AI" erhöhen die Selbstständigkeit (Quelle 20).
6. Wie können Angehörige unterstützen?
Emotionale Unterstützung: Oft hilft es schon, zuzuhören. Fragen wie "Wie geht es dir damit?" signalisieren echtes Interesse.
Praktische Hilfe: Begleitung zu Arztterminen, Hilfe beim Einrichten von Screenreadern oder gemeinsames Einkaufen können entlastend sein. Dabei sollte man fragen, welche Hilfe tatsächlich gewünscht ist.
Ermutigung: Positive Rückmeldungen stärken das Selbstwertgefühl: "Es ist toll, wie du das gemeistert hast."
Sprachliche Sensibilität: Klare Sprache hilft: "Das Glas steht rechts neben deinem Teller" statt "dort drüben". Beim Betreten eines Raums mit Namen melden, Hindernisse ankündigen (Quelle 21). Verben wie "sehen" oder "schauen" können normal verwendet werden.
7. Welche professionellen Hilfen gibt es?
7.1 Psychotherapie und medizinische Rehabilitation
Der DBSV baut sein Angebot im Bereich psychische Gesundheit aus. Der geplante "Mental Health Digital Hub" soll ab 2025 eine zentrale Anlaufstelle werden (Quelle 19). Auch der Blinden- und Sehbehindertenverein Nordrhein bietet Beratung. Rehabilitationskliniken wie die MEDICLIN Klinik am Weiher in Bad Wildungen bieten spezialisierte Programme (Quelle 22). Die Finanzierung erfolgt meist durch die Deutsche Rentenversicherung oder Krankenkassen.
7.2 Berufliche Integration und rechtliche Ansprüche
Berufsförderungswerke bieten spezialisierte Programme zur beruflichen Rehabilitation. Das BFW Düren bietet Vorbereitungslehrgänge und Umschulungen mit einer Erfolgsquote von etwa 70 Prozent (Quelle 23).
Das Sozialgesetzbuch IX regelt die Rehabilitation und Teilhabe: Paragraphen 64 bis 68 SGB IX regeln Hilfsmittel, Paragraph 113 SGB IX medizinische Rehabilitation einschließlich Psychotherapie, Paragraph 33 SGB V Hilfsmittel durch die Krankenversicherung. In Nordrhein-Westfalen ergänzt das Landesbehindertengleichstellungsgesetz diese Regelungen (Paragraph 3 LBGG NRW zur Barrierefreiheit).
Bei Ablehnung von Anträgen besteht Widerspruchsmöglichkeit. Das Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben für Menschen mit Sinnesbehinderung NRW (KSL-MSi-NRW) oder der DBSV bieten Unterstützung.
8. Wichtige Anlaufstellen
Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV)
Bundesweite Beratung, Selbsthilfegruppen, Empowerment-Projekte
Website: www.dbsv.org
Pro Retina Deutschland e.V.
Spezialisierte Unterstützung bei Netzhauterkrankungen
Website: www.pro-retina.de
KSL-MSi-NRW
Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben für Menschen mit Sinnesbehinderung NRW
Peer-Beratung und Interessenvertretung in NRW, Sitz in Essen
Blinden- und Sehbehindertenverein Nordrhein e.V.
Regionale Beratung und Unterstützung
Telefonseelsorge
Kostenlose, anonyme Beratung rund um die Uhr
Telefon: 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222
Krisenchat
Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene
Website: krisenchat.de
Sozialpsychiatrische Dienste
In jedem Gesundheitsamt vor Ort, kostenlose Beratung
Integrationsämter in NRW
LVR-Integrationsamt und LWL-Integrationsamt
Unterstützung bei beruflicher Integration
9. Fazit und Handlungsempfehlungen
Die Forschung belegt eindeutig: Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung tragen ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen. Dabei verstärken sich Sehverlust und psychische Belastungen gegenseitig. Dennoch zeigen erfolgreiche Rehabilitationsverläufe: Resilienz und gesellschaftliche Teilhabe sind möglich.
9.1 Zentrale Handlungsempfehlungen
Integration von Ophthalmologie und Psychologie: Psychische Screenings sollten routinemäßig in augenärztlichen Praxen durchgeführt werden (Quelle 11).
Aufklärung und Sensibilisierung: Die Schulung von medizinischem Fachpersonal und der Öffentlichkeit kann Vorurteile abbauen (Quelle 14).
Barrierefreiheit konsequent umsetzen: Die Umsetzung ist eine rechtliche Verpflichtung gemäß UN-Behindertenrechtskonvention. Dies betrifft Websites nach WCAG-Standards, öffentliche Verkehrsmittel und Gesundheitseinrichtungen (Quelle 21).
Selbsthilfe stärken: Die Förderung von Selbsthilfegruppen und digitalen Plattformen ermöglicht gegenseitige Unterstützung. Peer-Beratung ist besonders wertvoll (Quelle 19).
Forschung intensivieren: Weitere Studien sind nötig zu intersektionalen Faktoren, Wirksamkeit therapeutischer Ansätze und Suizidprävention (Quelle 4).
9.2 Perspektiven für Nordrhein-Westfalen
Nordrhein-Westfalen hat mit dem KSL-MSi-NRW eine wichtige Infrastruktur geschaffen. Der Landesaktionsplan "Eine Gesellschaft für alle – NRW inklusiv" formuliert ambitionierte Ziele. In der Praxis zeigen sich jedoch Lücken: Die Versorgungsdichte ist regional unterschiedlich, die Barrierefreiheit nicht flächendeckend gewährleistet. Wichtig ist, dass Menschen mit Sehbehinderung selbst an allen Entscheidungsprozessen beteiligt werden – gemäß dem Prinzip "Nichts über uns ohne uns".
9.3 Schlussbemerkung
Blindheit und Sehbehinderung sind mehr als medizinische Diagnosen – sie sind Lebenssituationen, die alle Bereiche berühren. Die psychische Gesundheit ist dabei zentral. Gleichzeitig zeigen erfolgreiche Rehabilitationsverläufe: Ein selbstbestimmtes Leben ist möglich. Die Voraussetzung ist eine Gesellschaft, die Barrieren abbaut und Teilhabe ermöglicht.
10. Quellenverzeichnis
Die Quellen sind fortlaufend nummeriert und im Text in Klammern referenziert.
- National Center for Biotechnology Information – Depression und Angst bei Menschen mit Sehbehinderung. Link: pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23820635/. Abgerufen am 14. August 2025
- World Health Organization – Blindness and vision impairment. Link: who.int/news-room/fact-sheets/detail/blindness-and-visual-impairment. Abgerufen am 16. August 2025
- National Institutes of Health – Vision Impairment and Mental Health. Link: ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8742742/. Abgerufen am 12. August 2025
- Universität Regensburg – Forschungsprojekt zu psychischer Gesundheit und Sehbehinderung. Link: uni-regensburg.de/psychologie-paedagogik-sport/psychologie/forschung. Abgerufen am 19. August 2025
- Deutsche Nationalbibliothek – Prävalenz von Depression und Angst bei Sehbehinderung. Link: d-nb.info. Abgerufen am 13. August 2025
- AOK – Gesundheitsatlas Deutschland: Depression. Link: aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/depression-verbreitung-in-deutschland. Abgerufen am 20. August 2025
- Robert Koch-Institut – Psychische Gesundheit in Deutschland, GEDA 2024. Link: rki.de. Abgerufen am 15. August 2025
- Robert Koch-Institut – Psychische Gesundheit bei Sehbehinderung während COVID-19. Link: rki.de. Abgerufen am 21. August 2025
- Deutsche Depressionshilfe – Suizidprävention und Suizidrisiko. Link: deutsche-depressionshilfe.de. Abgerufen am 14. August 2025
- Robert Koch-Institut – Psychische Belastung bei einseitiger Erblindung. Link: rki.de. Abgerufen am 16. August 2025
- Augeninfo.de – Psychogene Sehstörungen. Link: augeninfo.de/patinfo/psychogen.pdf. Abgerufen am 19. August 2025
- Stock und Stein – Vorurteile über Blindheit und Sehbehinderung. Link: stockundstein.org/leben-mit-sehbehinderung/vorurteile. Abgerufen am 13. August 2025
- World Health Organization – Mental Health in Low- and Middle-Income Countries. Link: who.int/mental_health/policy/country. Abgerufen am 22. August 2025
- Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel – Stigmatisierung psychischer Erkrankungen. Link: upk.ch/forschung/themen/stigmatisierung. Abgerufen am 15. August 2025
- Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel – Stigmatisierung und Angehörige. Link: upk.ch/angebote/angehoerige/stigma. Abgerufen am 20. August 2025
- Lebenshilfe – Spiralphasenmodell der Krisenbewältigung. Link: lebenshilfe.de/informieren/familie/krisenbewältigung. Abgerufen am 12. August 2025
- Augeninfo.de – Psychogene Blindheit und kognitive Verhaltenstherapie. Link: augeninfo.de/patinfo/psychotherapie.pdf. Abgerufen am 21. August 2025
- Lebenshilfe – Psychotherapie für Menschen mit Mehrfachbehinderung. Link: lebenshilfe.de/informieren/gesundheit/psychotherapie. Abgerufen am 18. August 2025
- Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband – Mental Health Digital Hub. Link: dbsv.org/beratung-selbsthilfe.html. Abgerufen am 14. August 2025
- MEDICLIN Klinik am Weiher – Psychosomatische Rehabilitation. Link: mediclin.de/klinik-am-weiher/psychosomatik/sehbehinderung. Abgerufen am 16. August 2025
- Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband – Sprachliche Präzision. Link: dbsv.org/ratgeber-kommunikation.html. Abgerufen am 19. August 2025
- MEDICLIN Kliniken – Rehabilitationsprogramme. Link: mediclin.de/medizinische-rehabilitation/sehbehinderung. Abgerufen am 13. August 2025
- Berufsförderungswerk Düren – Berufliche Rehabilitation. Link: bfw-dueren.de/angebote/sehbehinderung. Abgerufen am 22. August 2025
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Stand: September 2025
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