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KSL.NRW referieren zum Thema Barrierefreie Geburt

30.09.2025
KSL.Referentinnen werden bei der Delegiertenversammlung der Hebammen begrüßt

Auch Fachfrauen in Sachen Geburt kommen unter Umständen ins Grübeln. Und zwar dann, wenn es um das Thema „Barrierefreie Geburt“ geht. „Gerade habe ich überlegt, wo wir im Kreißsaal eine behindertengerechte Toilette haben,“ war die Reaktion einer der anwesenden Hebammen während des Vortrags der KSL.NRW im Jugendgästehaus Adolph Kolping in Dortmund. „Wisst Ihr das?“ fragte sie in die Runde. Es waren nicht viele Hebammen, die mit Bestimmtheit antworten konnten.

Ableismus

Dass es behindertengerechte Toiletten mindestens in der Nähe des Kreißsaals geben muss, ist das eine, dass sie auch funktionieren müssen, das andere. Leider sind die Erfahrungen von Eltern mit Behinderungen oft noch andere und führen zu belastenden Erlebnissen rund um die Geburt. Manche Barrieren entstehen auch durch fehlende Berührungspunkte zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten, so eine weitere Erkenntnis der Peer-Referentinnen. So kann es passieren, dass die Fähigkeiten von werdenden Eltern unter- oder überschätzt werden („Ableismus“) und dass zu wenig auf die behinderungsbedingten Bedarfe bei Eltern eingegangen wird – beides problematisch in der Ausnahmesituation rund um die Geburt. 

Iris Colsman vom KSL.Düsseldorf, die als Moderatorin beim gemeinschaftlichen Vortrag „Barrierefreie Geburt“ der KSL.NRW fungierte, begrüßte die Hebammen unter anderem mit der Frage, ob und welche Erfahrungen diese bei ihrer Arbeit bereits mit Eltern mit Behinderungen gemacht hätten. Es waren wenige, die bereits Eltern mit einer gravierenden Mobilitätseinschränkung betreut hatten, aber einige, die bereits mit Eltern mit Hörbeeinträchtigung zu tun hatten und noch mehr, die Eltern mit anderen Lernmöglichkeiten und auch mit psychischen Erkrankungen betreut hatten.

Jede der KSL-Referentinnen stellte einen der Bereiche Sehen, Hören, Verstehen, Bewegen und Empfinden dar. Auf der Basis von Peer-Berichten wurde jeweils auf die wichtigsten Barrieren hingewiesen, die sich bei einer Geburt ergeben können, und darauf, wie sie verhindert werden können. 

Bewegen

Katja Fellenberg vom KSL.Düsseldorf plädierte dafür, bei Frauen mit Mobilitätseinschränkungen unter der Geburt auch die zusätzlichen Schmerzen im Blick zu haben, die durch die körperliche Beeinträchtigung entstehen können. Manche Form der Positionierung sei ungünstig und begleitende Hebammen sollten dies im Blick behalten. Nach der Geburt fand sie es besonders wichtig, dass die Eltern selbst mit ihrem Säugling umgehen sollten. Tätigkeiten wie Füttern, Baden und Wickeln sollten ihnen nicht abgenommen, sondern möglich gemacht werden.

Um das Möglich-Machen ging es ihr auch in Sachen Eltern-Kind-Kurse: Geburtsvorbereitungskurse, Krabbelgruppen, Babymassage-Angebote – es sei wichtig, dass Eltern mit Behinderungen von den Anbietenden mitgedacht und vor allem erkennbar eingeladen werden. Sie selbst hatte auf der Suche nach einem Kursangebot ein so frustrierendes Erlebnis, dass sie auf weitere Anläufe verzichtete. Einige der anwesenden Hebammen reagierten spontan und versprachen, ihr Angebot dahingehend zu verbessern.

Sehen

Im Anschluss ging Christiane Rischer vom KSL.Arnsberg auf Bedarfe von Menschen mit Sehbeeinträchtigungen ein (vertretungsweise für die Kolleg*innen vom KSL.MSi, die verhindert waren): Hebammen sollten idealerweise die Gebärende und ihre Bedarfe vorher kennen. Es wäre besonders für Menschen mit Sehbehinderung wichtig, sich vorab im Kreißsaal zu orientieren, um Sicherheit für die Geburtssituation zu gewinnen. Dass dies im Klinikbetrieb so gut wie unmöglich sei, war allerdings die Reaktion der Hebammen. Kreißsaalführungen seien kaum planbar, und welcher Kreißsaal zum Termin frei wäre ebenfalls. Ein Mindestmaß an Orientierung können Hebammen jedoch schaffen, indem sie die Umgebung im Kreißsaal für die Mutter verbal beschreiben. Eine zuverlässige Rufbereitschaft während der Geburt ist für Frauen mit Sehbehinderung ebenfalls besonders wichtig.

Hören

Der Bereich Hören wurde (ebenfalls vertretungsweise) von Debora Stockmann, KSL.Münster dargestellt. Auch sie plädierte dafür, Bedarfe im Vorfeld der Geburt mit den werdenden Eltern genau abzustimmen: Ob im Kreißsaal beispielsweise die ganze Zeit über eine Gebärdensprachdolmetschung erfolgen solle, oder ob sie nur für den Notfall bzw. gar nicht vor Ort sein solle. Wenn Gebärdensprachdolmetschung benötigt würde, müsse dies – auch für die verschiedenen Untersuchungen im Rahmen der Schwangerschaft – langfristig geplant werden. Die Kosten dafür übernehmen die Krankenkassen, aber die Organisation liegt bei den Eltern, Ärzt*innen und Hebammen. Manchmal behelfen sich Eltern auch mit einer App oder indem sie ihre Familie einbinden. Das KSL für Menschen mit Sinnesbehinderungen hat Informationen rund um das Thema „Barrierefreie Kommunikation rund um Schwangerschaft und Geburt“ https://ksl-msi-nrw.de/de/node/6631 zusammengestellt. Debora Stockmann wies die Hebammen darauf hin, dass taube Eltern ihre Taubheit zumeist eher als ein Persönlichkeitsmerkmal denn als Behinderung sehen. Daher kann es beispielsweise sein, dass die Eltern nach der Geburt kein Hörscreening für ihr Neugeborenes wünschen, und diese Entscheidung steht ihnen frei.

Verstehen

Iris Colsman vom KSL.Düsseldorf  berichtete von  Erfahrungen von Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten unter dem  Stichwort „Verstehen“.  Häufig sei es so, dass diese Menschen auch bei sehr persönlichen Themen wenig Privatsphäre zugestanden bekämen. Zum einen seien sie häufig sehr eng eingebunden in Gruppen von Wohneinrichtungen und oder Werkstätten, zum anderen werden sie häufig gesetzlich betreut. Selbstbestimmung wird oft in diesem Umfeld nicht ernst genommen, so Iris Colsman. Manchmal mangele es auch an Sexualaufklärung, weil Sexualität und Elternschaft vom Umfeld tabuisiert oder nicht bedacht werde. Nicht zufällig sind Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten viermal häufiger von sexuellem Missbrauch betroffen als andere. Generell bedarf es rund um das Thema Geburt bei werdenden Eltern mit anderen Lernmöglichkeiten gut verständliche Schritt für Schritt Erklärungen über den Geburtsvorgang, und den Umgang mit dem Säugling. Hebammen sollten nach Möglichkeit im Vorfeld Unterstützer*innen und Begleiter*innen ausfindig machen. Möglicherweise gehe eine Elternschaft mit einer nötigen Änderung der Wohnform einher. 

Erschreckenderweise berichteten zwei Hebammen von Müttern mit anderen Lernmöglichkeiten, denen von vorneherein die Möglichkeit, ihre Mutterrolle zu leben, abgesprochen wurde. Ohne genaue Kenntnis des Sachverhaltes sei es zwar nicht möglich, dazu Stellung zu nehmen, so Iris Colsman. Aber es gäbe viele Unterstützungsangebote für diese Eltern, beispielsweise die Begleitete Elternschaft, eine qualifizierte Form der Elternassistenz. 

Rechtliche Hintergründe

In ihrem Vortrag zu rechtlichen Rahmenbedingungen der barrierefreien Geburt wies Ulrike Häcker ebenfalls mit Nachdruck darauf hin, dass Eltern mit Behinderung dasselbe Recht auf Elternschaft haben wie alle Menschen, und dass ebenso die Kinder behinderter Eltern das Recht haben, mit ihren Eltern zusammenzuleben. Auch sie war der Meinung, dass es (fast) immer mindestens ernsthaft versucht werden müsse, der Familie ein Zusammenleben zu ermöglichen, und nannte die Anlaufstellen für die Finanzierung verschiedener Unterstützungsformen. Die Babylotsinnen könnten ebenfalls gute Kooperationspartner*innen für Hebammen sein, auch wenn sich deren Arbeitsweise offenbar noch von Klinik zu Klinik unterscheidet. 

Empfinden

Anne Wohlfahrt vom KSL.Detmold ging in ihrem Beitrag auf die Bedarfe von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und Menschen aus dem Autismus Spektrum ein. Sie fragte zu Beginn nach Erfahrungen der Hebammen in diesem Bereich. Einige berichteten von extremen Herausforderungen, die fachlich und auch emotional an Grenzen stießen. Wichtig für die Hebammen war, sich im Fall eigener Überforderung zu jeder Zeit Hilfe holen zu können. Nach der Geburt könnten psychische Beeinträchtigungen sehr plötzlich auftreten, teilweise könne man sich bei längerfristig abschätzbaren Bedarfen durch gute gemeinsame Planung Sicherheit verschaffen. Dies betrifft unter anderem die Themen Bedarfsmedikation, Besuchsplanung oder Einzelzimmerlösungen. Anne Wohlfahrt bestärkte die Hebammen darin immer hochindividuell auf Eltern mit psychischen Erkrankungen einzugehen. Zu beachten sei, dass nicht alle Eltern eine entsprechende Diagnose hätten, auch weil das Thema Stigmatisierung in diesem Bereich großen Einfluss habe. Es gelte jedoch immer, die subjektive Wahrnehmung ernst zu nehmen und auf eine traumasensible Arbeit zu achten. Durch den Austausch wurde deutlich, dass die Hebammen eine wichtige Unterstützer*innenrolle einnehmen und Barrieren abbauen können, sei es durch Methoden zur Stressreduktion, die Schaffung einer reizarmen Umgebung aber auch als Begleiterin und Vermittlerin zu anderen Akteuren.

Fazit: 

Für eine barrierefreie Geburt und einen guten Start in die Elternschaft bedarf es in jedem Fall eines vorherigen Kennenlernens zwischen Hebamme und den werdenden Eltern. Hebammen sollten Eltern immer im Vorfeld nach individuellen Bedarfen fragen, damit bei der Geburt der äußere Rahmen gut vorbereitet ist und den Eltern Sicherheit gibt. Die Kommunikation während der Geburt kann dann funktionieren, selbst wenn die Geburt anders verläuft als erwartet.

Angeregt wurde von Hebammenseite, die Dokumentation zu einer Geburt, um Fragen zum Thema Behinderung zu ergänzen, um zukünftig auf diese Erfahrungen und auch auf belastbare Zahlen aus diesem Bereich zurückgreifen zu können.