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Digitale Barrierefreiheit im Alltag: Anspruch, Wirklichkeit und das BFSG – Eine Betrachtung zum nationalen Tag der Sehbehinderten

Nahaufnahme einer Computertastatur. Ein Finger liegt auf einer Taste mit dem Piktogramm einer Person mit Langstock.

Digitale Barrierefreiheit ist ein großes Wort, das oft missverstanden wird. Es geht nicht nur um blinde Menschen, die Screenreader nutzen, oder Menschen mit motorischen Einschränkungen, die alternative Eingabemethoden benötigen. Es geht um alle. Denn jeder von uns profitiert von gut gestalteter, zugänglicher Technik, sei es bei temporären Einschränkungen (gebrochener Arm) oder in speziellen Nutzungssituationen (helle Sonne auf dem Display). Der Anspruch ist klar: Digitale Inhalte und Dienste sollen für jeden nutzbar sein. Die Realität? Ein Flickenteppich. Und das, obwohl es mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) nun eine klare gesetzliche Grundlage gibt.

Gerade am 06. Juni, dem nationalen Tag der Sehbehinderten, wird uns die Dringlichkeit dieses Themas bewusst. Dieser Tag soll nicht nur das Bewusstsein für die Bedürfnisse sehbehinderter Menschen schärfen, sondern auch auf die Fortschritte und vor allem die noch bestehenden Defizite in der Barrierefreiheit hinweisen. Das diesjährige Motto lautet: Touchscreens. Für Menschen mit einer Sehbehinderung ist der Zugang zu digitalen Informationen oft die einzige Möglichkeit zur gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wenn dieser Zugang verbaut ist, sind sie doppelt isoliert.

Was einigermaßen funktioniert (und warum)

Es gibt Bereiche, in denen wir Fortschritte sehen, wenn auch oft schleppend und inkonsistent.

  • Betriebssysteme und Standard-Apps: Moderne Betriebssysteme wie Windows, macOS, iOS und Android haben eingebaute Barrierefreiheitsfunktionen. Dazu gehören Screenreader (VoiceOver, Narrator, TalkBack), Vergrößerungsfunktionen, Farbfilter und alternative Maus- und Tastatursteuerungen. Das ist gut, weil die Basis stimmt und diese Funktionen systemweit verfügbar sind. Die Hersteller haben hier erkannt, dass es ein Standard sein muss.
  • Große, etablierte Websites und Dienste: Unternehmen wie Google, Microsoft oder Apple investieren signifikant in Barrierefreiheit für ihre Kernprodukte. Das liegt an ihrem öffentlichen Image, aber auch am schieren Druck von Gesetzgebern und großen Nutzergruppen. Ihre Websites und Anwendungen sind oft besser zugänglich als die eines kleinen Startups. Das ist kein Verdienst, sondern eine Notwendigkeit in dieser Größenordnung.
  • Subtitles/Captions in Videos: Hier gab es immense Fortschritte, nicht zuletzt durch die Automatisierung. YouTube und Co. bieten oft automatisch generierte Untertitel an. Sie sind nicht perfekt, aber sie sind eine Hilfe für Hörgeschädigte und auch für Nutzer, die Videos ohne Ton konsumieren wollen. Der Trend geht hier in die richtige Richtung, aber die Qualität ist entscheidend. Automatisch generierte Fehler sind immer noch ein Ärgernis.
  • Webstandards: Die WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) sind der Goldstandard. Manche Entwickler sind sich dessen bewusst, und es gibt Tools, die bei der Einhaltung helfen. Das Problem ist nicht das Wissen, sondern die konsequente Anwendung.

Was (oft) nicht funktioniert (und warum es momentan so bleiben wird)

Der Ist-Zustand ist leider oft ernüchternd. Im Folgenden wird anhand zahlreicher Rückmeldungen von Betroffenen aufgeschlüsselt, wo die Nutzungsmöglichkeiten digitaler Angebote noch immer massiv eingeschränkt sind.

  • Die Masse der Websites und Apps: Der Durchschnitt einer neu erstellten Website oder App ist nach wie vor nicht barrierefrei. Oft wird Barrierefreiheit als nachträgliche Korrektur oder als "nice-to-have" betrachtet, anstatt von Anfang an in den Design- und Entwicklungsprozess integriert zu werden. Die Gründe sind vielfältig: Unwissenheit, Zeitdruck, fehlendes Budget und schlichte Ignoranz. Man spart sich die Mühe, weil die Konsequenzen für den Anbieter zu gering sind.
  • PDF-Dateien: PDFs sind der Endgegner der Barrierefreiheit. Sie werden massenhaft eingesetzt, sind aber oft nicht getaggt, strukturiert oder lesbar für Screenreader. Behörden, Universitäten, Unternehmen – alle lieben PDFs, ignorieren aber die Barrierefreiheitsaspekte. Ein „barrierefreies PDF“ zu erstellen, ist aufwendig und wird selten getan. Das ist schlichtweg Trägheit und mangelndes Bewusstsein.
  • Öffentliche Dienste und Behörden-Websites: Obwohl hier gesetzliche Vorgaben oft am strengsten sind, hinkt die Realität massiv hinterher. Viele offizielle Websites sind unübersichtlich, schlecht strukturiert und unzureichend zugänglich. Formulare sind eine Katastrophe. Man könnte annehmen, dass hier das Bewusstsein am größten wäre, aber die Umsetzung ist oft mangelhaft. Das ist Versagen auf ganzer Linie, denn hier gibt es keine Ausreden.
  • Komplexe Anwendungen und Nischensoftware: Spezialsoftware, die in Unternehmen oder Nischenmärkten eingesetzt wird, ist fast nie barrierefrei. Die Argumentation ist dann oft: "Das ist nur für einen kleinen Nutzerkreis, das lohnt sich nicht." Das ist zynisch und schließt Menschen aus.
  • Mangelnde Schulung und Bewusstsein bei Entwicklern: Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass Entwickler automatisch wissen, wie man barrierefreie Software baut. Das ist falsch. Die Ausbildung in diesem Bereich ist oft mangelhaft oder nicht existent. Barrierefreiheit ist kein technisches Gimmick, sondern eine Designphilosophie, die gelernt werden muss.
  • Dynamische Inhalte und JavaScript-Overlays: Viele moderne Websites nutzen komplexe JavaScript-Anwendungen, die Inhalte nachladen oder Pop-ups einblenden. Diese sind oft eine unüberwindbare Aufgabe für Screenreader und alternative Eingabemethoden, da der Fokus verloren geht oder Inhalte nicht korrekt erkannt werden. Hier wird "cooles Design" über die Funktionalität gestellt.

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG): Ein zahnloser Tiger?

Ab dem 28. Juni 2025 tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Deutschland in Kraft. Das Gesetz setzt die EU-Richtlinie 2019/882 (European Accessibility Act) um und soll die digitale Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft verbindlich machen. Es betrifft eine Vielzahl von Produkten und Dienstleistungen, darunter:

  • Computer-Hardware und Betriebssysteme
  • Telekommunikationsdienste
  • Online-Handel (Websites und Apps)
  • Banking-Dienste
  • E-Books und zugehörige Software
  • Personenbeförderungsdienste (z. B. Ticketautomaten, Websites)

Die Idee dahinter ist gut: Es schafft eine klare rechtliche Verpflichtung, Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten. Unternehmen müssen nun nachweisen können, dass ihre Angebote zugänglich sind. Leider wurden aber einige relevante Bereiche ausgelassen. Darunter befinden sich beispielsweise Haushaltsgeräte, deren Nutzung für viele Betroffene eine unüberwindbare Herausforderung darstellen. 

Die Realität könnte jedoch ernüchternd werden:

  1. Übergangsfristen: Es gibt Übergangsfristen. Neue Produkte und Dienstleistungen müssen ab dem Stichtag barrierefrei sein, bestehende haben oft längere Übergangsfristen. Das bedeutet, dass nicht über Nacht alles barrierefrei sein wird.
  2. Durchsetzung und Kontrollen: Ein Gesetz ist nur so gut wie seine Durchsetzung. Es bleibt abzuwarten, wie konsequent die Marktüberwachung und die zuständigen Behörden (z. B. die Bundesnetzagentur) Verstöße ahnden werden. Ohne spürbare Sanktionen wird sich bei vielen Anbietern, die bisher Ignoranz praktizierten, wenig ändern. Die Befürchtung ist, dass das BFSG ein Papiertiger bleibt, wenn die Kontrollen lasch sind.
  3. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU): Für kleinere Unternehmen stellt die Umstellung eine Herausforderung dar. Hier muss es klar kommunizierte Hilfestellungen und Anreize geben, statt nur Drohungen. Oft fehlt es an Know-how und den notwendigen finanziellen Mitteln. Das Gesetz sieht zwar Ausnahmen für Kleinstunternehmen vor, aber die Lücke dazwischen ist groß.
  4. Das "Was funktioniert" vs. "Was als barrierefrei gilt": Unternehmen werden das Minimum erfüllen wollen, um den gesetzlichen Anforderungen zu genügen. Das bedeutet nicht automatisch, dass die Lösungen wirklich optimal für alle Nutzer sind. Ein "gerade so barrierefrei" ist immer noch weit entfernt von einer wirklich exzellenten Nutzererfahrung.

Fazit: Es ist noch ein weiter Weg, aber das BFSG ist ein notwendiger Schritt

Die digitale Barrierefreiheit ist in vielen Bereichen noch immer eine Baustelle. Das BFSG ist ein notwendiger und längst überfälliger Fortschritt, da es die bislang eher unverbindlichen Empfehlungen in konkrete rechtliche Pflichten überführt. Es gibt Leuchttürme, die zeigen, was möglich ist, aber die breite Masse dümpelt im Mittelmaß oder darunter. Es ist keine Frage des Könnens, sondern des Wollens und der Prioritätensetzung. Wer behauptet, es sei zu kompliziert oder zu teuer, ist unzureichend informiert oder hat es nicht verstanden. Es geht darum, Inklusion als integralen Bestandteil der digitalen Welt zu begreifen, nicht als nachträgliche Anpassung. Das BFSG zwingt nun viele dazu, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Die entscheidende Frage wird sein, wie ernst es die Marktüberwachung mit der Durchsetzung nimmt und ob die Unternehmen über das gesetzliche Minimum hinausdenken. Solange das nicht flächendeckend geschieht, bleibt die digitale Welt für viele – und insbesondere für Menschen mit Sehbehinderung, deren Tag wir heute begehen – eine Welt voller Hürden.

Tipps zur Anpassung von Screenreadern für Genderzeichen

Autor: Julian Rohlfing
E-Mail: julian.rohlfing@ksl-msi-nrw.de
Veröffentlicht: 05.06.2025