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Barrierefreier Zugang zu Gerichtsdokumenten für blinde und sehbehinderte Menschen als Beteiligte an einem Gerichtsverfahren

24.07.2024
Links KSL-Kacheln. Rechts: Ein Bild von mehreren Büchern in einem Bücherregal.

Barrierefreier Zugang zu Gerichtsdokumenten für blinde und sehbehinderte Menschen als Beteiligte an einem Gerichtsverfahren

Landgericht München, Beschluss vom 12.09.2023, Aktenzeichen: 14 T 9699/23

 

Das Landgericht München hat entschieden, dass blinden oder sehbehinderten Verfahrensbeteiligten auf Antrag im Gerichtsver­fahren Gerichtsdokumente und Schriftsätze des Anwalts oder der Anwältin der Gegenseite barrierefrei zugänglich zu machen sind. Rechtsgrundlage hierfür ist § 191a Abs. 1 S. 2, Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) in Verbindung mit § 4 Zugänglichmachungs­verordnung (ZMV).

Sachverhalt

Im vorliegenden Fall beantragte die im Prozess verklagte Mieterin, die aufgrund einer Erkrankung funktional erblindet war und die Brailleschrift nicht erlernt hatte, dass Ihr die gerichtlichen Dokumente und anwaltlichen Schriftsätze der Gegenseite mittels Audiodatei zur Verfügung gestellt werden. Die Beklagte war im Verfahren anwaltlich vertreten.

Zur Erläuterung der Entscheidung

Das Landgericht München hat betont, dass es für den Anspruch, die Dokumente barrierefrei zu erhalten, nicht mehr relevant ist, ob eine Partei im Verfahren anwaltlich vertreten ist. Der Wortlaut der Vorschrift von § 191a GVG hat sich geändert. Zudem sei ein barrierefreier Zugang zu den Gerichten eine der zentralen Bedingungen für die Chance auf die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.

Das Landgericht München begündet den Anspruch weiter damit, dass Personen, die nicht (ausreichend) sehfähig sind, eine barrierefreie Form der Dokumente zur Verfügung gestellt werden muss. Somit werden ihnen die gleichen Möglichkeiten der Auseinandersetzung an die Hand gegeben wie sehenden Personen. In der Tat würden dies auch die Gebote der Gleichbehandlung und des fairen Verfahrens gebieten.

Schlussfolgerung

Es ist nicht die Aufgabe eines beauftragten Anwalts oder einer beauftragten Anwältin, Schriftsätze und andere Dokumente eines gerichtlichen Verfahrens seiner blinden oder sehbehinderten Mandantin/ seinem blinden oder sehbehinderten Mandanten vorzulesen, zumal dies auch den zeitlichen Rahmen eines Anwalts in der Praxis sprengen würde. Ein*e Anwalt*in fungiert an dieser Stelle nicht als „Assistenz“.

Was ist ein barrierefreier Zugang zu Informationsquellen?

Nach § 4 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) besteht ein barrierefreier Zugang zu Informationsquellen und Kommunikations-einrichtungen, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig. Also müssen die Gerichtstdokumente und Schriftsätze so aufbereitet werden, z.B. als Audiodatei oder in Blindenschrift, dass sich eine blinde oder sehbehinde Verfahrensbeteiligte/ ein blinder oder sehbehindeter Verfahrenbeteiligter ohne die Hilfe eines beauftragten Anwalts/ einer beauftragten Anwältin über den Inhalt jederzeit informieren kann. Bei Gerichtsverfahren, die sich über einen längeren Zeitraum hinziehen, wird man sich mit dem Inhalt auch häufiger befassen wollen.

Umfang des Anspruchs auf barrierefreie Information

Nach § 2 Zugänglichmachungsverordnung sind alle Dokumente, die der betroffenen Person zuzustellen oder formlos bekannt zu geben sind, vom Anspruch auf Zugänglichmachung umfasst. Als solche gerichtliche Dokumente kommen insbesondere Beschlüsse, Verfügungen und sonstige Entscheidungen in Betracht, die gemäß der Verfahrensordnung zur Kenntnisnahme durch die betroffene Person bestimmt sind. Der Anspruch besteht ferner für Schriftsätze der Gegenseite.

Formen der Zugänglichmachung

§ 3 Zugänglichmachungsverordnung regelt die Formen der Zugänglichmachung:

Die Dokumente können der berechtigten Person schriftlich, elektronisch, akustisch, mündlich, fernmündlich oder in anderer geeigneter Weise zugänglich gemacht werden.

Die schriftliche Zugänglichmachung erfolgt in Blindenschrift oder in Großdruck. Bei Großdruck sind ein Schriftbild, eine Kontrastierung und eine Papierqualität zu wählen, die die individuelle Wahrnehmungsfähigkeit der berechtigten Person ausreichend berücksichtigen.

Die elektronische Zugänglichmachung erfolgt durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments. […]

Praxistipp:

Wenn blinde oder sehbehinderte Verfahrensbeteiligte Schriftsätze und Gerichtsdokumente barriererfrei erhalten wollen, müssen sie bei Gericht einen Antrag stellen. Im Antrag ist anzugeben, in welcher barrierefreien Form sie die Dokumente benötigen, z.B. als Audiodatei oder in Brailleschrift. Es entstehen den Verfahrensbeteiligten für die barrierefreie Bereitstellung keine Kosten. Die Kosten trägt die Staatskasse.

 

Natalie Ziemann, Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben Für Menschen mit Sinnesbehinderung, natalie.ziemann@ksl-msi-nrw.de